Die Umarmung
Bleistift und Papier, das ist alles, was sie mir gelassen haben. Und
das Nachtlicht über der Tür. Sicherer fühle
ich mich dadurch nicht. Sie
brauchen es, um mich Tag und Nacht beobachten zu können.
Papier und Bleistift, damit wusste ich schon immer besser umzugehen als
mit der Sprache. Nicht, dass ich stumm geboren worden wäre.
Nein, es
hat sich im Laufe der Jahre so ergeben.
Du bekommst bald ein Brüderchen!
Großmütter, Großväter, Onkel und
Tanten, sie alle gerieten schier aus dem Häuschen bei der
Ankündigung.
Ich fühlte, dass meine wunderbaren Jahre zu Ende gehen
sollten. Darum
erwiderte ich hartnäckig: Ich will ein Schwesterchen! Selbst,
als der
Stammhalter endlich da war, und man mir mitteilte: Du hast ein
Brüderchen bekommen! versuchte ich es ein letztes Mal mit der
Beschwörungsformel: Es ist ein Schwesterchen!
Die nun folgenden Wochen waren die schwersten in meinem
vierjährigen
Leben. Endlose Tage, die Mama im Bett, das Brüderchen im Arm.
Ich sollte zum Spielen nach draußen gehen.
Draußen war es kalt. Die Nachbarskinder nahmen mich nicht
für voll. Sie
hatten unzählige große und kleine Geschwister. Ja,
wenn ich wenigstens
einen älteren Bruder gehabt hätte! Stattdessen musste
ich immer warten,
bis sich eine Nachbarin meiner erbarmte und mir die ständig
klemmende
Haustür öffnete. Sonst war mir der Weg in die
Geborgenheit für Stunden
abgeschnitten.
Wer hat dich schon wieder hereingelassen? fragte die Mutter.
Sie hielt das Brüderchen im Arm.
Du sollst doch drauáen spielen!
Und ich begann, mich in mich selbst zurückzuziehen.
Katja hat es nicht so gern, wenn man sie umarmt, hieß es im
Familienkreis.
Aber ihr kleiner Bruder, der mag gern schmusen!
Ich mag das auch! schrie es in mir.
Über meine Lippen kam kein Laut.
Neue Hoffnung schöpfte ich, als mein Vater nach
längerer Abwesenheit
zurückkehrte. Das Brüßderchen
brüllte bei seinem Anblick. Umsonst! Auch
ihm war ein Junge, der ihn so offensichtlich ablehnte, lieber als ein
freundliches Mädchen.
Jahre später schliefen mein Bruder und ich in der Kammer.
Zwischen
unseren beiden Eisenbetten war gerade so viel Platz, dass man bequem
zum Fenster gelangen konnte.
Eines Nachts hatte er einen bösen Traum und weinte. Zum ersten
mal
erwachten mütterliche Gefühle in mir. Ich nahm den
Kleinen zu mir ins
Bett und tröstete ihn, bis er einschlief. Ich genoss seine
Nähe, als
meine Mutter ins Zimmer stürzte und schrie: Was hast du dir
dabei
gedacht? Lass den Jungen schlafen! -
Aber er hatte doch solche Angst! versuchte ich mich zu rechtfertigen.
An meinem zwölften Geburtstag fiel ich aus allen Wolken, als
mich meine
Mutter in den Arm nahm und mir mit einem Kuss gratulierte. Ich zog mich
weinend in die Toilette zurück.
Das Weinen gehörte inzwischen zu meinen
Hauptbeschäftigungen, besonders
nach dem wöchentlichen Kinobesuch. In den alten Filmen
unarmten sie
sich ständig.
Liebespaare, Eltern, Kinder, Geschwister untereinander. Die
Tränen, die
ich im Kino schamhaft zurückzuhalten versuchte, flossen abends
im Bett.
Bis meine Mutter eines Tages die Taschentücher fand. Daraufhin
wurde
der Kinobesuch eingeschränkt.
Nach zehn Jahren der Abwesenheit kehrte ich ganz unverhofft in die Arme
meines Vaters zurück.
Hast du aber eine große hübsche Tochter! sagten
seine Kollegen. Er, der
bisher nur Augen für seinen Sohn gehabt hatte, entdeckte seine
Tochter
wieder. Es traf sich gut, dass der Junge mitten in einer Wachstumskrise
steckte. Er versagte in der Schule und tat grundsätzlich nie
das, was
man von ihm erwartete.
Mir war klar, dass diese Vorliebe nicht von Dauer sein würde.
Trotzdem
nahm ich die Aufmerksamkeit, die mir so unvermutet zufloss, dankbar an.
Erst, als er sich bei einer Umarmung vergriff, zog ich mich auch
äußerlich wieder zurück.
Später trat Jan in mein Leben. Wir trafen uns in dem Betrieb,
in dem
wir beide arbeiteten. Ich hatte ihn sehr gern. Und er mich auch. Ich
ließ es zu, dass er mich in den Arm nahm. Doch als er anfing,
mich
festzuhalten und mich nicht wieder freigab, ergriff ich den
nächstbesten Gegenstand - und stach zu.
Hier sind alle nett zu mir. Niemand kommt mir zu nahe. An sonnigen
Tagen genieße ich es, mit der Schwester in den Park zu gehen.
Wenn über
mir in den alten Bäumen die Vögel singen, bin ich
glücklich.
Nur in den Nächten versuche ich, durch allerlei Tricks zu
verhindern,
dass ich einschlafe. Denn im Schlaf nehmen sie Besitz von mir, all
jene, die im Leben nichts mit mir zu tun haben wollten. Vater, Mutter,
Großmütter, Tanten - alle greifen nach mir,
umschlingen mich mit ihren
Fangarmen, schnüren mir die Kehle zu, so dass ich weder atmen,
noch
schreien kann.
Wenn sie mich gegen Morgen freigeben, fühle ich mich wie
ausgelaugt.
Dann liege ich ganz still und warte auf die letzte große
Umarmung. Ich werde bestimmt nicht versuchen, zu schreien.
Ich weiß, dass mich niemand hört.
co/Karin Rohner 1992 /
aus Brückenschlag 9 / 93, Zeitschrift für
Sozialpsychiatrie, Literatur und Kunst
1.
Brighton
My
Love - 2.
Allergien - 3.
Einzelhaft - 4.
Die
Umarmung - 5.
Nachtzug - 6.
Gedanken
beim Apfelschneiden
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