Aus
einer anderen Zeit
Mädchenzeit
1
Bilder und Träume in
Prosa
Krieg und Frieden
Zeitsprünge.
Fichtennadelduft. Baumwurzeln kreuzen den Weg. Bevor ihre
bloßen Füße den Boden berühren,
verdunkelt sich der Himmel. Sie reißt die Brille von den
Augen. Keine Wirkung. Warum ist es hier so dunkel? Hast du deine
Sonnenbrille noch auf? Die habe ich längst abgeworfen! Der
Strand, das Wasser – alles, was sie in greifbarer
Nähe wähnte, verliert an Tiefe. Sie sucht die Hand
der Mutter. Meine Augen! Führe mich fort von hier. Aber bitte,
lass meine Hand nicht los!
Hamburg.
Weite kahle Flächen, verbrannte Erde. Geröll und
Mauerreste. Notdürftig geflicktes Panorama. Sie gehen durch
den Bahnhof. Auf der Rückseite erscheint die Welt heller. Im
Zug. Nie wieder fahre ich in dieses kaputte Dorf, sagt das
Mädchen.
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Weihnachten.
Weihnachten ist Krieg. Seit sie auf der Welt ist, ist Krieg. Sie ist
vier. Und auf einmal versteht sie. Es gibt einen Tannenbaum, rote
Äpfel und vier kleine Holzuntersetzer mit gemalten
Äpfeln drauf. Kurz nach Weihnachten gibt es dann ein
Brüderchen. Das will sie aber nicht. Sie wünscht sich
eine Schwester. Oder einen großen Bruder – einen
Schutzengel. Papa ist im Krieg. Sie fahren nach Lübeck. Ihn
besuchen. Bevor er an die Front muss. Mama, die Tante und das
Mädchen. Zuerst mit dem Zug. Dann mit der
Straßenbahn. Sie hat noch nie so viele Beine gesehen. Sie
weint. Die Tante nimmt sie auf den Arm. Es gibt noch eine Welt oberhalb
der Beine. Papa wohnt im Stall. Bei den Pferden. Die sind
schön warm, sagt die Mama. Sie friert trotzdem. Papa kommt aus
dem Krieg. Aus Dänemark. Er hat duftende Sachen mitgebracht.
Die kann man essen. Wurst, Speck, Käse. Und vier
Puppenstühle aus hellem Buchenholz. Für eine
Puppenstube, die es nur im Traum gibt. Papa freut sich über
den kleinen Bruder. Mama legt ihm das Baby in den Arm. Der Bruder freut
sich nicht. Er schreit, bis er im Gesicht krebsrot anläuft.
Mutter nimmt ihn zurück.
Stromsperre.
Die Küche mit dem feuchtkalten Zementboden. Auf dem Tisch, vor
sich hin blakend, die braune, selbstgezogene Paraffinkerze. Ein Blatt
Papier, nur spärlich beleuchtet. Das Mädchen malt.
Große, steife Buchstaben. Auf und ab. Schreiben kann sie auch
schon! Sie ist doch erst fünf. Der Mann streicht dem
Mädchen mit der Hand über den Kopf. Mein
Herzchen… Meine kleine Katze… Worte, die sie nie
zuvor hörte. Er mag kleine Mädchen. Sie mag den
Lehrer nicht.
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